Betrachtet man die Situation nüchtern und als Aussenstehender, so sollte man als Musikbegeisterter die sommerlichen Orgelfeierstunden im Kölner Dom aus rein musikalischen Gründen meiden. Die Akustik in der riesigen Kathedrale des 13. Jahrhunderts ist einem differenzierten Musikgenuss ebenso abträglich, wie ein komplett verdunkeltes Museum dem Betrachten von Gemälden. Der exzessive Nachhall verwischt jeden Klang ins Unkenntliche und macht somit das Musizieren auf den beiden Orgeln des Kölner Doms zu einem diffizielen Unterfangen. Zwar wurde mit dem Bau der Schwalbennestorgel im Langhaus die akustische Situation im Dom seit 1998 wesentlich verbessert, doch auch ein Meister des Orgelbaus wie Philipp Klais kann an den physikalischen Begebenheiten im Dom nur wenig ändern.
Umsomehr muß es also erstaunen, dass jeden Sommer tausende Zuhörer in den Dom strömen, um den Orgelfeierstunden beizuwohnen. Mit Klappstühlen und Sitzkissen ausgerüstet pilgern die Kölner Stunden im Voraus in den Dom, um – vorbei an den eindringlich auf Ordnung bedachten Domwächtern (“Nuuuur zum Konzercht!”) – einen guten Sitzplatz zu ergattern. Betrachtet man als Nicht-Kölner dieses wöchentliche Schauspiel, mag man eine ungefähre Idee vom sprichwörtlichen Kölner Lokalpatriotismus bekommen: Su jett jibbet nur bey unns in Kölle! Für gewöhnlich ist der Dom dann ab 19 Uhr vollends gefüllt und bis zu 3000 Zuhörer warten gespannt auf die Klänge der Orgel, die pünktlich um 20 Uhr den Kirchenraum erfüllen.
So sympathisch und anrührend diese Szenerie auch sein mag, erklären kann sie den besonderen Zauber, der von den Orgelfeierstunden ausgeht nur teilweise. Dieser Zauber scheint vielmehr gespeist aus verschiedenen Quellen, die jedoch alle direkt oder indirekt mit der erhabenen Architekur des Domes zusammenhängen. Hierzu gehören sicherlich das Farbenspiel der Abendsonne, die sich in den Glasfenstern der Westfront bricht, das überwältigende Gefühl für die Größe des Raumes, welches ironischerweise erst durch die unzulängliche Akustik und den daraus resultierenden Nachklang hervorgerufen wird, sowie die harmonische Spannung zwischen statischen Proportionen in der Architektur und den sich stetig ändernden rhythmischen und harmonischen Proportionen der Musik.
Die gestrige Orgelfeierstunde mit dem venezianischen Organisten Silvio Celeghin war in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Durchgängig auf sehr hohem Niveau gespielt, machte Celeghin die akustischen Unzulänglichkeiten des Domes vergessen. Ein gutes Beispiel für die oben erwähnten Nachhall und die daraus entstehenden Schwierigkeiten für den Interpreten mag folgendes Klangbeispiel verdeutlichen:
[audio:Orgel01.mp3|titles=Johann Sebastian Bach: Präludium BWV 548|artists=Silvio Celeghin]Wie sehr Celeghin das äußerst komplexe Raum-Zeit-Gepräge des Kölner Doms beherrschte, zeigt der Beginn der Bachschen Fuge besonders eindrucksvoll. Trotz starker akustischer Vermischung der einzelnen Klänge, gelang es Celeghin die individuellen Stimmeinsätze mittels genauer rhythmischer Einsätze und exakter Artikulation akurat voneinander abzusetzen:
[audio:Orgel02.mp3|titles=Johann Sebastian Bach: Fuge BWV 548|artists=Silvio Celeghin]Zu welch dominierender Lautstärke die Orgel im Kölner Dom fähig ist, konnte das Publikum mit besonderer Vehemenz in Wolfgango dalla Vecchias Fantasia, einer Komposition von 1952, erfahren, die mit ihren allzu klar abgesteckten Formteilen weit hinter dem Niveau der anderen Kompositionen von Vincenzo Bellini und Marco Enrice Bossi zurückblieb. Die schiere Gewalt solcher Lautstärkepegel läßt sich in Worten kaum beschreiben, und auch das oft gebrauchte Wort von der Orgel als “Königin der Instrumente” trifft hier nur oberflächlich den Kern. Viel eher wäre hier der Vergleich mit den Sensationen, die das Publikum eines Rockkonzertes ereilen angebracht: man hört zwar nicht so genau was da musikalisch vor sich geht, doch ist die Stimmung gut und die Naturgewalt der Musik spricht die Emotionen direkter an, als es jedes noch so fein abgestimmte Kunstwerk vermag:
[audio:Orgel03.mp3|titles=Wolfgango dalla Vecchia: Schlussteil Fantasia, 1952|artists=Silvio Celeghin]Seine spieltechnische Eleganz und beeindruckende Virtuosität konnte Silvio Celeghin in der das Konzert abschließenden Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Sinfonia aus der Kantate “Wir danken dir, Gott, wir danken dir, BWV 29” nachdrücklich unter Beweis stellen.
[audio:Orgel04.mp3|titles=Johann Sebastian Bach: Bearbeitung für Orgel der Sinfonia aus “Wir danken dir, Gott, wir danken dir”, BWV 29|artists=Silvio Celeghin]Trüben konnte das gelungene Konzert lediglich die als unpassend empfundene Zugabe aus Giuseppe Verdis Aida, die inklusive Triumphmarsch und Einsatz der Trompeten im Rückpositiv eine unfreiwillig komische Schlussnote setzte.
Die Orgelfeierstunden im Dom werden nächsten Dienstag um 20 Uhr fortgesetzt. Der Eintritt ist frei.
Hey Matthias,
thank you for the interesting insights into the colourful sounds of the Kölner Dom. I must admit that my impression from the sound quality was never bad. In addition I would like to take the opportunity to mention that it is really interesting to see how many people are attracted by a concert that does not fullfil at all “normal” criterias of a concert, such as contact to the artists or a nice ambience (indoors or outdoors). The only reason I find for it is the already mentioned “Lokalpatriotismus” of audience and the fact that the concert is for free (important to mention that here the free admission does not affect the quality of the artwork as such)…
Sehr verehrter Matthias Röder,
ich besuche seit Anfang der 60er Jahre diese Dienstagskonzerte und denke diese sind für das Volk.
Ihre Kritik ist vergleichbar mit dem Geschenk einer Blume und der Beschenkte sagt als Dankeschön “..da hängt aber ein Blättlein..”
Dieser drang zum Perfektionismus ist das Übel am Unvermögen unserer Gesellschaft, noch etwas zu genießen.
Mit musikalischem Gruß
Rudolf Mensebach
Sehr geehrter Herr Mensebach,
haben Sie vielen Dank für Ihren willkommenen Kommentar zu meinem Artikel.
Vielleicht habe ich mich etwas undeutlich ausgedrückt (wofür ich mich entschuldigen möchte). Mir lag daran, die besondere Atmosphäre der Orgelfeierstunden darzustellen. Meiner Meinung nach sind die Konzerte ein wirklich besonderes Erlebnis, obwohl rein nüchtern betrachtet, die Akustik des Domes mehr als zu wünschen übrig läßt.
Es ging mir darum zu zeigen, dass ein Konzert immer mehr als nur die gespielten Noten sind. Es spielen auch die Zuhörer und der Raum eine entscheidende Rolle.
Auf zukünftige Kommentare Ihrerseits freut sich,
Ihr Matthias Röder